Eines Tages, es war im Oktober 2015, kam ich flötend von meiner Physiotherapie und musste feststellen: Irgendein Vollidiot hat meinen Sattel geklaut.
Am helllichten Tag. Direkt vorm Bathoniaforum, wo’s zugeht wie aufm Bahnhof. MEINEN Sattel! Von meinem Rad, das inmitten einer Reihe rund 25 anderer Räder stand. So klar. Nun soll das nicht Geschichte sein. Bin dann also im Stehen gefahren. Trotz meiner überdurchschnittlich ausgeprägten Oberschenkelmuskulatur war mir sofort klar: Das ist kein Dauerzustand. Also bald zum größten Fahrradladen Kölns und ob der stolzen Preise geheult: „Mannoooo, warum muss einem so was ausgerechnet passieren, wenn man gerade arbeitslos geworden ist?“. Sagt der Verkäufer: „Guck mal bei Schmirgel Flauschi in der Hospeltstraße vorbei, da kriegst du nen gebrauchten Sattel, das wird auf jeden Fall günstiger“. Also im Stehen in die Hospelt gesaust. Nicht ohne den Gedanken: „Schmirgel Flauschi?? WTF? Hat der mich verarscht?“.
Wo zur Hölle bin ich hier?
Nee, hat er nicht. Sondern ich bin an einem der skurillsten Orte meines Lebens gelandet. In den tiefsten Tiefen eines tiefen Hinterhofs befindet sich wohl so was wie der Fahrradhimmel. Hier schlafen die ausrangierten Drahtesel, bevor sie generealüberholt auferstehen. Oder sie leisten eine Organspende, denn hier wird alles wiederverwertet, nichts weggeworfen. Eine Werkstatt der Nachhaltigkeit also. Der Fahrradhimmel ist ein Paradies. Ohne blond gelockte Engel, aber mit rund 300 Rädern, geschätzten 71526 Einzelteilen, Unmengen an Werkzeug, Hasen (Professor und Racer), Katzen (Mogli) und schraubenden Freunden. Und mit Flauschi. Das ist Sonja, ein schwarz gelockter Engel. Ich dachte, „Schmirgel Flauschi“ sei der Name von ihm. Hätte auch gepasst. Aber nee, Sonja heißt Flauschi und … äh … Schmirgel Schmirgel. Und dann sind die auch noch ein Paar, wie ich gerade erfahren hab. Es wird immer doller. Aber noch mal kurz zurück:
„Glück ist für mich …“
Bei meinem zweiten Besuch im Februar (Bremsen runtergrockt), erfuhr ich, dass die zwei derzeit in Arbeit ersticken. Und es zwar nett sei, dass ich Werbung für sie mache (ich habe bestimmt 20 Freunden mit leuchtenden Augen von ihnen erzählt), sie aber gerade keine Neukunden bedienen könnten. Dementsprechend dachte ich vorhin, als ich das dritte Mal auf dem Weg zu ihnen war: „Was für eine Scheißidee, warum sollten die sich featuren lassen, wenn sie keine Werbung wollen?“.
Begrüßt wie eine alte Freundin, habe ich mich dann doch sofort getraut, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ohne auch nur zwei Sekunden zu zögern, antwortete Flauschi prompt: „Klar, total gerne. Aber heute keine Fotos von mir, ja? Ich muss mir wenigstens vorher die Haare waschen.“ Zehn Minuten später, als alle Fotos (außer dem von Flauschi) im Kasten waren, hörte ich den beiden zu und dachte: „Gibt’s doch alles gar nicht, was ist das denn für ’ne geile Story?“. Also nicht nur, dass die beiden ein Paar sind. Sondern zum Beispiel auch, dass Sonja vor drei Jahren „nur mit Mühe und Not aufpumpen konnte“. Schwer zu glauben, mein bisheriger Eindruck von ihr war: „Wahnsinn, wie kann ’ne Frau dermaßen gut reparieren? Und es mögen, den ganzen Tag mit ölverschmierten, dreckigen Händen rumzulaufen?“. Ganz einfach: Das Schrauben und vor allem die zufriedenen Kunden erfüllen sie: „Glück ist für mich, wie die Leute lächeln, wenn sie ihr repariertes Rad zurückkriegen. Das ist oft ein Grinsen übers ganze Gesicht, total schön!“.
Totgesagte Fahrräder erstehen auf
Für Flauschi und Schmiergel ist Classic Cycle Commons (ja, die Oase hat sogar einen Namen) mehr, als ein Arbeitsplatz: „Wir leben hier unseren Traum“. Hier wird nicht für Umsatz, sondern aus Leidenschaft repariert. Entsprechend sind Reperaturen nicht nur günstiger, wenn gebrauchte Ersatzteile verbaut werden. Auch was neu beschafft werden muss, wie Bremsbeläge oder Tretlager, montieren die beiden preiswerter, als die Konkurrenz. Das ist allerdings bestimmt nicht der einzige Grund, warum die zwei seit Stunde eins keinen einzigen Tag Leerlauf, sondern immer ordentlich zu tun haben. Die zwei sind Profis, die mit ihrer Leistung überzeugen, aber eben noch viel mehr, als das. „Schmirgel ist der Friseur unter den Fahrradverkäufern“, sagt Flauschi. Wohl, weil er seine Kunden glücklich macht. Und ja, smalltalken kann er auch. Die beiden haben in dem Hinterhof ein kleines Paradies geschaffen, in dem man immer länger bleibt, als nötig. Weil’s so viel zu entdecken und zu bestaunen gibt. Weil dieser Ort einfach so herrlich skurril ist. Und weil Schmi
rgel und Flauschi Menschen sind, denen man stundenlang zuhören könnte. Die für etwas einstehen. „Wir sind Aussteiger“, erklären die beiden. Entsprechend haben sie den Anspruch, ALLES zu reparieren – was auch zu 95 % klappt. Selbst dann, wenn andere Werkstätten ein Rad schon für tot erklärt haben. „Das ist unser Ding: Wir wollen nicht die Wegwerfgesellschaft bedienen, da haben wir keinen Bock drauf“.
Vom Drahtesel-Segen, Flüchtlingen und dem Fahrradcafé
Apropos wegwerfen: Angefangen haben die beiden vor drei Jahren mit fünf Rädern und ohne jegliches Werkzeug bei sich Zuhause, wo schnell selbst in der Küche Räder gelagert wurden, so groß war der Ansturm. Dass sie bald darauf ihr jetziges, für ihr Vorhaben traumhaftes Domizil gefunden haben, „war totaler Zufall“. Absoluter Quatsch; hier hat doch das Schicksal ordentlich an den Schrauben gedreht!? Genau wie beim großen Drahtesel-Segen: Kurz nach dem Umzug erfuhren sie von einem Ehrenfelder Hausmeister: „Bei uns sind 80 herrenlose Räder eingelagert, wenn die polizeilich geprüft wurden, könnt ihr die haben – gespendet. Für nichts.“ Und so begann die Geschichte von Classic Cycle Commons. Eine Geschichte, die gerade erst angefangen hat: „Wir haben eine kilometergroße Mindmap an Ideen und erst zwei Punkte davon realisiert“, warnt Sonja. Sie haben bereits mit Flüchtlingen Räder repariert und ein Jahr lang mit der „Faradgang“ zusammen gearbeitet, die „Mobilität für jeden“ fordert und fördert. Das nächste große Projekt: ein Fahrradcafé. Damit die Kundschaft während kleinerer Reparaturen ein Käffchen schlürfen kann. Dafür werden übrigens noch dringend ehrenamtliche Helferlein, z. B. Handwerker gesucht. Außerdem sind Workshops in Planung, „damit die Leute kleinere Geschichten auch mal selbst machen können.“ Weil gut Ding Weile haben will: Ich werde euch über die Kurse informieren, wenn’s soweit ist. Und garantiert selbst dran teilnehmen. Denn auch ich kann nur mit Mühe und Not aufpumpen.
Aber, man kann es sich schon denken, ihr seid herzlich eingeladen, die beiden schon vorher mal zu besuchen. Ob mit einem Problem am Rad, oder einfach so. Hier ist jeder zu jeder Zeit willkommen: „Wir sind immer da!“. Doch aufgemerkt: Je nachdem, aus welcher Richtung man kommt, sind die Öffnungszeiten anders:
„Und noch was“, ruft sie mir durchs Tor hinterher, „mit Fahrrädern können wir Frieden schaffen!“. Hach, ich mag ja Pathos.
[…] ein Portait über eine Fahrradwerkstatt gegen die Wegwerfgesellschaft […]
[…] haben wir uns bei bei Classic Cycle Commons (einen tollen Bericht gibt’s auf Lisa’s Blog ) […]