Goethe hat’s schon 1827 kapiert und verewigt: „Sieh, das Gute liegt so nah“. Ich denk mir das auch ständig. Aber dass meine nächste Blog-Geschichte SO nah liegt?! Knaller! 550 m von meinem Zuhause entfernt befindet sich nämlich eine der beiden letzten Hutfabriken Deutschlands!
Hier, in unserm Ehrenfeld!
Nun hab ich diese Sensation nicht ein mal selbst recherchiert. Sondern ich hab die Frau in meinem Fitnessstudio, mit der ich seit Monaten immer mal wieder beim gemeinsamen Schwitzen smalltalke, irgendwann gefragt:
„Was machst du eigentlich beruflich?“. „Ich leite eine Firma in vierter Generation“. „Aha. Und was für eine Firma?“. „Eine Hutfabrik“. „EINE HUTFABRIK??? Wie toll ist das denn?! Dürfte ich darüber in meinem Blog schreiben?“
Klar darf ich. Und stelle bei unserem Termin in der Hutfabrik Flemming fest: „Ach! Die auf die Hauswand und das Tor der Marienstraße 69 gemalten Hüte haben einen Grund?“.
Auch darauf bin ich leider nicht von selbst gekommen, obwohl ich hier seit fünf Jahren mindestens zwei Mal pro Woche per Pedes oder Velo unterwegs bin. Stattdessen weiß ich erst jetzt, dass hier bereits
seit 1966 bis zu 4.000 Kopfbedeckungen im Jahr
hergestellt werden. Ich glaub, mein Schwein pfeift.
Ute Flemming und ihre sechs Mitarbeiter dämpfen, ziehen, formen, nähen und dekorieren Hüte für Karnevalsvereine in ganz Europa, genau wie für „Vereine, die Krieg miteinander spielen“ (ja, die gibt’s wirklich). Sie statten Reiter, Kutschfahrer und Jäger mit Kopfbedeckungen aus und sind erste Anlaufstelle für internationale Kostümbilder von Theater-, Musical- und Fernsehproduktionen.
Sogar Russel Crowe trägt in „Master and Commander“ eine Kopfbedeckung aus Ehrenfeld.
Da pfeif jetzt sogar ich.
Tatsächlich werden bei Flemming heute vor allem spezielle, teils irrsinnig aufwendige Einzelstücke hergestellt. Das war nicht immer so. Bis 1986 hat Utes Vater alle großen Kaufhäuser mit alltagstauglichen Hüten für Jedermann beliefert, größere Margen für Kaufhof, Herti, Karstadt und Co. industriell mit Pressen hergestellt. Dann brach der Markt ein. Zölle fielen weg und in „Geiz ist geil“-Manier wurde plötzlich schön billig in China, Asien und Pakistan produziert.
„Das war eine Katastrophe für uns“,
erinnert Ute sich. Papa Jochen musste die Belegschaft von 32 auf 6 Hutmacher schrumpfen. Doch er schaffte es, aus der Not eine Tugend machen und sich als Topadresse für exquisite Modelle zu etablieren, indem er sich aufs Handwerkliche besann.
Dieses Handwerk hat es übrigens in sich. Der Beruf des Hutmachers – als Ausbildungsberuf längst abgeschafft – ist laut Ute „einer der schwierigsten überhaupt“. Und schweißtreibend, wie ich feststelle, ohne selbst mitzuarbeiten. Klimaanlage? Niemals! Um die Filze (die übrigens aus Schafwolle oder Kaninchenhaar und ein Abfallprodukt der Fellindustrie sind) vernünftig formen zu können, muss die Luft feucht sein. So herrschen an heißen Sommertagen morgens schon mal 48 Grad in der kleinen Fabrik. Nachts sind’s dann zum Glück nur noch muckelige 38.
Aber selbst im Winter wird es Alexander Schirotschenko ganz bestimmt nicht kalt, denn
„langsam arbeiten is‘ hier nich‘!“,
erklärt die Chefin. Da wäre der Hutmacher auch schön blöd. Denn in den Dampfkesseln, in denen die Filzrohlinge (in Fachkreisen „Stumpen“) weich gebadet werden, herrschen locker 100 Grad. Und man fischt die da mit der bloßen Hand wieder raus! Das ist ungefähr so, „als würde man Nudeln aus kochendem Wasser holen“, bestätigt Ute meinen entsetzten Blick. Also nein, wirklich kein Beruf für mich.
Dabei ist die häufigste Verletzung dieser Zunft nicht mal die Verbrennung, sondern … Trommelwirbel … der Leistenbruch! Weil, denkt man gar nicht, Schwerstarbeit! Um den weichen, feuchten Filz über eine Holzform zu ziehen, braucht man nämlich die Kraft des Unterbauchs. Und muss weiterhin schnell sein, denn sobald der Filz kalt ist, lässt er sich nicht mehr bewegen. An guten Tagen zieht Alexander bis zu 70 Hüte. Ute kommt immerhin auf 40.
Einmal richtig in Form gezogen, werden die Stumpen mit Nägelchen oder der berühmten Hutschnur zum Trocknen fixiert. Ja doch, die kann wirklich reißen und dann war alle Arbeit umsonst. Passiert aber selten. In der Regel schaffen es alle Filze auf Anhieb zum Trocknen in den Ofen.
Von ihrer Holzform abgepellt geht’s dann in die Garnitur, also zum Hutputz. Früher war das die Station der Putzmacherin. Heute garniert die Modistin.
Apropos alte Zeiten: Die (Näh)Maschinen, an denen Ute und ihr Team sich um die Oberflächenbearbeitung und Dekoration der Hüte kümmern, stehen hier seit der Geschäftseröffnung wie Felsen in der Brandung. Einmal dorthin geschafft, wurden sie keinen Millimeter mehr bewegt. Woran sich so schnell auch nichts ändern wird. Die Hutfabrik Flemming ist ein Altbetrieb mit Bestandsschutz. Würde etwas umgestellt, wäre eine neue Gewerbeabnahme erforderlich und Ute weiß:
„Die Dinger würde uns nie wieder eine Gewerbeaufsicht abnehmen, da gibt’s heute natürlich ganz andere Auflagen und Schutzbestimmungen.“
Trotz des Gefahrenpotenziales der antiken Maschinen hat sich noch nie jemand an ihnen verletzt. Und ich bin ganz bei der Geschäftsführerin, wenn sie sagt: „Klar muss es Arbeitsschutzbestimmungen geben, aber wenn ich so dusselig bin und mir über meinen Finger nähe, hat das nichts mit der Maschine, sondern mit meiner Arbeitsweise zu tun, würde ich mal sagen“. Oder mit Restalkohol, weiß ich aus eigener Erfahrung.
Betrachtet man die Sache mit Bestandsschutz nüchtern, kann man eigentlich froh sein. Denn solche alten Schätzchen sieht man ja nun nicht alle Tage. Erst recht nicht in Aktion.
Ich finde, Ute ist zu Recht stolz wenn sie sich freut:
„Mir gefällt es, dass wir hier einen Erlebniseinkauf bieten“.
Tatsächlich wurden im Laufe der Jahre keine großen Veränderungen vorgenommen, nur Kleinigkeiten modernisiert. Und tatsächlich dachte ich beim Lustwandeln durch die Räumlichkeiten ungefähr genauso oft „oh“ und „ah“, wie bei meinem ersten Besuch im Fahrradhimmel.
Die 44-Jährige, die den Betrieb nach dem Tod ihres Vaters 2013 übernommen hat, weiß: „Klar könnten wir alles moderner und cleaner gestalten, aufgeräumter.“ (Stimmt, in der Fabrik sieht’s ungefähr aus, wie meistens bei mir Zuhause.) „Das will ich aber nicht. Hier schlägt einem der Charme der 50er und 60er entgegen und oft entdecken Kunden auch nach dem zehnten Besuch noch was Neues, das ist doch toll!“. Auch hier pflichte ich ihr bei. Aber wer kommt denn überhaupt zu Besuch? Laufkundschaft ja wohl nicht? Oh doch! Sogar 15 bis 20 Leute pro Tag! So auch eine Frau, die sich als Mitglied von der Damengarde vorstellt und ihren Dreispitz abholen möchte.
„Wie ist denn ihr werter Name?“,
erkundigt Ute sich ernsthaft. Da fällt mir mal wieder fast der Stift aus der Hand. „Ich finde das schön“, lächelt sie, als ich frage, ob sie das immer so macht. Und ich finde das unglaublich. Unglaublich schön!
Ähnlich unfassbar ist, dass die Mitglieder der Blauen Funken (eine der ältesten Kölner Karnevalsgesellschaften) Amazonenhüte für 410 Euro auf’m Kopf haben. Mit handgefertigten Büffelhaarperücken drin und Marabufedern dran. Donnerlüttchen! Ja, dieser Karneval ist eine tragende Säule der Hutfabrik Flemming. Aber neben den jecken hat Ute doch bestimmt auch hippe Kunden? Ich mutmaße:
„Der Hut ist heute doch auch so’n Hipster-Gimmick, oder?“
„Ja, und auch Hipster brauchen eine Beratung. Genau wie eine Brille oder eine Frisur sitzt der Hut direkt am Gesicht, da muss ich wissen, was mir steht.“ Mir mit meinem „Püppchengesicht“ (bitte???) würde Ute zum Beispiel ein Wagenrad mit 40 Zentimetern Durchmessern schlichtweg verbieten. Na gut.
Kommen denn auch wirklich Kunden der Spezies Hipster in die Marienstraße? „Klar, jede Woche! Aber am liebsten mit Termin“ (Tel. 0221-553206). Nur dann kann sie eine Fachberatung gewährleisten, die es in Kaufhäusern schlichtweg nicht gibt. Und die dauert. „Wir haben hier 3.500 Hutformen, die frei im Rand und Kopf miteinander kombinierbar sind. Die Formenvielfalt kannst du dir ausrechnen.“ Kann ich natürlich nicht, verstehe aber, was sie meint.
Das flemmingsche Materiallager ist übrigens wirklich gewaltig: Hier tummeln sich allein rund eine Million Filzrohlinge, die Ute bewusst ausschließlich aus Amerika, statt aus China bezieht. Und während bis auf ein hessischer Betrieb alle anderen in Deutschland ansässigen Hutfabriken ihre Produktion ins Ausland verlagert haben, genießt Ute den Exotenstatus ihrer Firma. Es erfüllt sie, ein aussterbendes Gewerbe zu hüten und Menschen dafür zu sensibilisieren, dass Qualitätsware made in Germany nicht mal teurer sein muss, als made in China.
Mein neuer Hut, der gleichzeitig mein erster ist (abgesehen von Sonnenhüten in Kindertagen) liegt zum Beispiel bei 40 Euro und soll – bei richtiger Pflege – bis zu 30 Jahre halten. Der Hut als treuer Lebensabschnittsbegleiter. Übrigens ist der schlichte Schwarze im Vergleich zu seinen aufwendig dekorierten, üppig geformten und leuchtend grellen oder gar gemusterten Geschwistern natürlich ziemlich unspektakulär, wenn nicht gar langweilig.
Aber anders als Ute hab ich wenn überhaupt ne Mütze auf’m Kopf und fange lieber vorsichtig an.
„Angeguckt wirst du mit nem Hut so oder so!“.
Na prima. Anders als ich sieht Ute in den Eyecatchern eine Chance und beherrscht es längst, ihren Look durch Kopfbedeckungen, statt über Klamotten zu definieren. So nach dem Motto „nicht Kleider machen Leute, Hüte machen Leute“. Find ich toll und denke direkt an den weißen Strandhut aus der Raffaello-Werbung Anfang der 90er.
Ach ja. Dass das Fernsehen in der Ehrenfelder Hutfabrik ein und aus geht, kann man sich wahrscheinlich denken. Der WDR ist Stammgast, sogar die Sendung mit der Maus war schon da und überhaupt rennt ihr die Presse die Bude ein, klar. Überzeugt davon, dass ein zufriedener Kunde eh die beste Werbung ist, und wissend, dass die Suche nach einem vernünftigen Hut zu ihr führt, muss sie sich nicht um PR kümmern, sondern kann sich ganz aufs Tagesgeschäft konzentrieren.
Das besteht momentan vor allem aus Trachtenhüten: Diesen Samstag, am 27. August, findet in der Manufaktur nämlich der „Sonderverkauf Oktoberfest“ statt. Mit stark reduzierten Hüten für die Wiesn (ob für die echten oder die kölschen – dat is janz ejal). Nicht so deine Welt? Dann kauf dir doch nen Hipsterhut.
Oder buch eine Führung. Ich finde, so eine Zeitreise bei der man vom Aussterben bedrohte, traditionelle Handwerkskunst erleben kann, ist ne ganz schöne Abwechslung zum permanenten Handydaddeln.
Hutfabrik Flemming
Marienstrasse 69
50825 Köln-Ehrenfeld
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